Ein kerntechnischer Unfall hat sich ereignet
Vorausschau auf einen Super-GAU in Deutschland / Von SPIEGEL-Reporter Hans Halter 18.08.1986 (!!!)
Die Entfesselung des Atoms hat alles verändert, mit Ausnahme des menschlichen Denkens. Deshalb treiben wir auf eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes zu. Albert Einstein
Um das große Inferno, den Super-GAU, in Gang zu setzen, muß man ein Mann sein. Entweder ein Pilot oder ein Terrorist oder ein Schichtleiter in der Schaltwarte des Kernkraftwerkes.
Der Pilot wird eine exzellente Ausbildung genossen haben, in Staatsdiensten stehen, einen „Jumbo“ oder einen „Tornado“ fliegen dürfen. Die lächerliche kinetische Energie einer kleinen „Piper“ (zwei Sitze, ein Kolbenmotor), von Dilettanten in den Himmel gehoben, kann einem deutschen AKW nichts anhaben.
Auch der Terrorist müßte hochqualifiziert sein, von Beruf reaktorerfahrener Diplomphysiker, zugleich fit und suizidal, von drei Helfern unterstützt, anders geht es nicht. Nur der Schichtleiter wird ein ganz gewöhnlicher Schaltwart sein, gelangweilt seit Jahren, ein bißchen besoffen und in den alles entscheidenden Sekunden vom unvorhergesehenen Zusammentreffen verschiedener Störungen und ihrer hohen Komplexität heillos überfordert.
Unser Tschernobyl heißt Stade oder Ohu oder Brunsbüttel oder Biblis. Vielleicht auch Lubmin (DDR), Fessenheim (F) oder Beznau (CH). Der Ort ist ungewiß, auch die Stunde der Katastrophe. Noch haben die Täter keinen Namen, ihre Opfer nicht und nicht die Helden. Aber sie leben schon unter uns.
Da sind die Piloten: Theoretisch sollen die deutschen Tiefflieger und ihre alliierten Kollegen um jedes Atomkraftwerk einen kleinen Bogen machen. Die riesigen Meiler gelten als „Industrieanlagen hoher Gefahrenklasse“. Doch gerade deshalb macht es dem Herrn Luftwaffenmajor und seinem „Tornado“ (2230 Stundenkilometer) soviel Spaß, das Beton-Ei mal ins Visier zu nehmen. Im bayrischen Kernkraftwerk Ohu („Isar“) I sind dabei schon für 100000 Mark Fensterscheiben zu Bruch gegangen.
„Mindestens 50 Meter Abstand hätten die Tiefflieger vom hessischen AKW Biblis gehalten, hat die Bundeswehr im letzten Jahr nach einer gründlichen Untersuchung herausgefunden. Das soll uns beruhigen. Fünfzig Meter weiter strahlt das „Inventar“, wie es neuerdings beschönigend heißt: Der radioaktive Abfall entspricht den längerlebigen Spaltprodukten, die bei der Explosion von rund 1000 Hiroschima-Bomben frei würden.
Die tödliche Glut ist hinter dem „Berstschutz“ verborgen, einer Hülle aus Stahl und Beton. Diesem „Containment“ werden – seit Tschernobyl – fabelhafte Dinge zugetraut. Vor allem deshalb, weil „diese russischen Blechbüchsen“ (Oberstarzt Otfried Messerschmidt, höchste Strahlenautorität der Bundeswehr) kein Containment haben. Die bedrängten Verteidiger der deutschen Reaktoren halluzinieren den Berstschutz von Woche zu Woche großartiger, im Martin-Luther-Stil als „gute Wehr und Waffen“. (Amen.)
„Ein Unfall mit den Auswirkungen nach außen wie in Tschernobyl ist bei uns nicht möglich“, hat die „Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke“ („Ihre Stromversorger“) allen deutschen Zeitungslesern in einem Rieseninserat versprochen.
Der Text heißt nicht: „Ein Unfall ist bei uns nicht möglich.“ Die beiden Einschränkungen – „wie in Tschernobyl“ und „mit den Auswirkungen nach außen“ – machen die Zusage wertlos. Ein Super-GAU „wie in Tschernobyl“, das weiß ja inzwischen jedes Kind, kann in der Bundesrepublik schon deshalb nicht passieren, weil es keine mit 1700 Tonnen brennbarem Graphit bestückten Reaktoren gibt. Und was die „Auswirkungen nach außen angeht“, da ist das Containment vor. Hofft man.
Vom alten Versprechen- „die Kernenergie ist sicher“ – haben sich alle AKW-Propagandisten inzwischen unauffällig gelöst. Nun heißt die Parole: „Sicherer machen“. Das ist etwas ganz anderes, nämlich viel weniger. Tschernobyl hat auch die hartgesottenen Atomprofiteure erschreckt. Jeder von ihnen hält inzwischen einen Super-GAU in Deutschland für möglich – wenn auch nicht für wahrscheinlich. Damit die Menschen draußen im Lande sich an den Gedanken einer großen Reaktorkatastrophe langsam gewöhnen, wird er in zwei Portionen serviert: Super-GAU ja, Katastrophe nein, weil Berstschutz.
„Der druckfeste Sicherheitsbehälter aus Stahl und einer Hülle aus massivem Beton“ (Stromversorger-Inserat) steht zwischen uns und dem Inferno. Aber wie fest steht er?
Einem abstürzenden Jumbo (so was kommt hin und wieder vor), der mit Schwung und im richtigen Winkel trifft, ist das Containment nicht gewachsen. Und es verträgt auch nur sieben Atmosphären Druck von innen, dann kriegt es Risse und platzt. Die sieben atü können sich schnell aufbauen, in zwei bis 90 Stunden: Das fabelhafte Containment geht zu Bruch, sein radioaktives Inventar verflüchtigt sich, der Super-GAU ist da.
Dieses Risiko rückt immer näher, auch für die beamteten Nuklearexperten. Ganz „überrascht“ und „sehr erstaunt“ ist beispielsweise Otfried Messerschmidt, der GAU-Guru der Bundeswehr, „daß so was überhaupt passiert ist“.
Noch Anfang 1980 hatte der Professor „große Reaktorkatastrophen“ als „Fiktion“ abgetan. Messerschmidt damals: „Es erscheint fast unsinnig, über ein derartiges Ereignis zu diskutieren.“ Man würde ja auch keine ärztlichen Maßnahmen für den Fall planen, „daß Personen durch aus dem Weltraum kommende Meteore getroffen und verletzt werden“. Messerschmidts Prognose Mitte 1980: Es sei mit einer „großen Reaktorkatastrophe nur einmal innerhalb von zehn bis 100 Millionen Betriebsjahren zu rechnen“.
Nur vier Monate später kam derselbe Gelehrte der Wahrheit schon näher. Nun lautete seine Vorhersage, vorgetragen vor Ärzten auf der Düsseldorfer Fachausstellung „Medica“: „Eine große Reaktorkatastrophe in 10000 Betriebsjahren.“
Die Wahrscheinlichkeit des Desasters hatte sich in kurzer Frist also um das Tausendfache erhöht. Nach Tschernobyl zieht sich Prophet Messerschmidt auf eine wachsweiche Prognose zurück: „Ich halte die deutschen Kernkraftwerke für sicherer als Tschernobyl.“ Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr Oberst.
“ Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei. Eine wichtige Durchsage des Oberkreisdirektors. Im Kernkraftwerk Ypsilon hat sich ein kerntechnischer Unfall ereignet. Radioaktive Stoffe sind freigesetzt worden. Die Bevölkerung wird zum Schutz ihrer Gesundheit dringend gebeten, sich sofort in die Häuser zu begeben und alle Fenster und Türen zu schließen… Haustiere sofort einschließen… nicht mehr ins Freie gehen…Oberbekleidung und Schuhe ablegen… unbedeckte Körperflächen mit Seife reinigen… Rundfunk und
Fernsehgeräte einschalten… Bleiben Sie ruhig undbesonnen! “
Diese Texte im schönsten Beamtendeutsch sind längst fertig auf Vorrat fabriziert. Wenn der Super-GAU da ist, sollen sie über Lautsprecher aus Hubschraubern und Einsatzwagen verlesen werden. Die Sirenen heulen dazu „Katastrophenalarm“: eine Minute Dauerton,
zweimal unterbrochen, nach zwölf Sekunden eine Minute Dauerton.
Am grünen Tisch ist die Katastrophe dutzendfach durchgespielt. Solange der GAU im Saale stattfindet, klappt alles vorzüglich. Es gibt ein Drehbuch, der Krisenstab tritt minutenschnell zusammen, aus seinem Panzerschrank entfalten sich die Alarmpläne. Man telephoniert, organisiert, sperrt im Geist verschiedene Straßen, ruck, zuck wird über die Evakuierung entschieden. Bei den bisherigen Planspielen und Stabsrahmenübungen war die Katastrophe spätestens nach vier Stunden, pünktlich zum Mittagessen, bewältigt. Gewöhnlich dadurch, daß die Herren vom Kernkraftwerk Entwarnung gaben: Störfall beseitigt, Freisetzung radioaktiver Stoffe nicht mehr zu befürchten.
Solche läppischen Szenarien wollen die Katastrophenschützer in den nächsten Monaten den Post-Tschernobyl-Zeiten anpassen. Eine Andeutung von Realismus ist angesagt (nicht etwa das Inferno). Alles soll bundesweit „vereinheitlicht“ werden, und womöglich entschließt man sich sogar, den Nachbarn der Kernkraftwerke Einblick in die Notfallplanung zu gewähren. Bisher war, zum Beispiel rund um das rheinlandpfälzische Kernkraftwerk Philippsburg, eine „Veröffentlichung der Alarm- und Einsatzpläne nicht vorgesehen, um einem Mißbrauch vorzubeugen“. Man könne doch nicht, hat die Bundesregierung bisher argumentiert, eine „Handhabe für eine böswillige Beeinträchtigung oder Behinderung von Schutzmaßnahmen“ bieten.
Nach Tschernobyl heißt es für die Beamten Abschied nehmen von der Illusion, im „Ermessen der Behörde“ liege nicht nur die Akteneinsicht, sondern eigentlich auch der Super-GAU, der nicht stattfinden werde, weil er nicht stattfinden darf.
Jetzt verlautbart Frau Gesundheitsministerin Rita Süssmuth, ohne Image-Verlust lange abgetaucht, daß sich ihr Amt „auf einen künftigen, ähnlichen Störfall“ vorbereite.
Kurzum: Es besteht keine Gefahr, und sie nimmt jeden Tag weiter ab. Es kann ja gar nichts passieren, einerseits. Und andererseits: Wir packen’s.
George Orwell („1984″) hätte seine Freude. Die Vorbereitungen für den Tag X des deutschen Super-GAU entwickeln sich streng nach den Regeln des Doppeldenk:
“ Doppeldenk bedeutet die Fähigkeit, gleichzeitig zwei einander widersprechende Überzeugungen zu hegen und beidegelten zu lassen… Bewußte Lügen zu erzählen, an die man ehrlich glaubt; jede unbequem gewordene Tatsache zu vergessen, um sich bei Bedarf wieder daran zu erinnern; die Existenz einer objektiven Realität zu leugnen und die ganze Zeit über die von einem geleugnete Realität einzukalkulieren.“
Doppeldenk ist Neusprech. In Altsprech, sagt Orwell, hieß Doppeldenk „ganz unverblümt Realitätskontrolle“. Nur durch die Versöhnung von Widersprüchen lasse sich Macht behaupten.
Und durch Vorsicht! Unsere demokratisch gewählten Volksvertreter sind nie auf die Idee gekommen, ein – früher ja angeblich „absolut sicheres“ – Atomkraftwerk etwa in Sichtweite der Bundeshauptstadt
errichten zu lassen (dafür ist dort jetzt das größte unterirdische „strahlensichere Hilfskrankenhaus“ der Republik mit 436 Betten fertiggestellt worden). Der Rhein kühlt mehr als ein halbes Dutzend AKWs, doch alle fernab von Bonn.
Erwartungsgemäß gibt es auch keinen Atommeiler in Oberbayern, etwa am Tegernsee. Dort atmen (außer den paar Ureinwohnern) die neuen Reichen, die alten Nazis und die Mächtigen die reine Luft der Berge, auch Franz Josef Strauß, der erste „Atomminister“ der Republik. Die armen, braven Niederbayern haben dafür Ohu I.
Wir sitzen nicht alle im gleichen Boot, wenn der Super-GAU kommt. Diese letzte Neusprech-Steigerung des „größten anzunehmenden Unfalls“, definiert als der „nicht mehr beherrschbare GAU“, ist tödlich gefährlich für Menschen im Radius von 30 Kilometern rund um den Reaktor. Wer weiter weg wohnt, hat ganz gute Chancen. Je weiter weg, desto besser. Vertrauen in die Kernkraft ist gut, Distanz ist gesünder. Doch keine Regel ohne Ausnahme.
Ausgerechnet die allermeisten Mitarbeiter des AKW – tagsüber sind dort rund tausend zugange – werden sich beim Super-GAU gerade noch aus dem Staub machen können. Sie erfahren schließlich als erste, daß es brennt. Zwischen der Erkenntnis, daß der Reaktor „nicht mehr kontrollierbar“ ist, und dem Massentod vergeht Zeit. Die Frage ist nur: wieviel?
Ein Kernkraftwerk explodiert nicht in Sekundenschnelle wie eine Atombombe. Der große Knall, die Hitzewelle und der strahlende Atompilz werden ausbleiben – so versprechen es, mit einsichtigen Argumenten, die Reaktorphysiker.
Wenn der Jumbo beispielsweise auf das berstschutzlose Maschinenhaus von Block A des hessischen Kernkraftwerkes Biblis stürzt, dann brennt das Gebäude wegen des Jumbo-Kerosins lichterloh. Die tödliche Gefahr für Hunderttausende ginge aber nicht vom Feuer, sondern von den tonnenschweren rotierenden Achsen der Turbinen aus. Sie könnten sich wie riesige Bohrer in Richtung Reaktor und Brennelementelager in Bewegung setzen. Da hilft dann auch kein Containment mehr. KKW Biblis, Block A wäre „außer Kontrolle“, und zwar ziemlich schnell.
Langsamer geht es in einem anderen, auch nur unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu Ende gedachten Szenario zu: Alle Pumpen der Notkühlaggregate fallen aus, die Rohre bersten – zum Beispiel deshalb, weil Dieselmotoren im Winter schlecht anspringen und Erdbeben sowie Terroristen sich nicht vorher bei der Betriebsleitung anmelden. Dann dauert es ungefähr eine Stunde, bis sich die Brennelemente mangels Kühlung auf über 1000 Grad Celsius aufgeheizt haben. Radioaktivität tritt aus, die Kernschmelze beginnt, alle Klappen des Containments schließen sich. Für die Betriebsmannschaft im Reaktorgebäude, 20 Mann, gibt es keine Rettung. Sie sterben.
In der Schaltwarte bemühen sich derweil ein Dutzend Männer, den atomaren Rennwagen, dessen Gaspedal bei Vollgas klemmt und der keine Bremsen mehr hat, irgendwie um die Runden zu bringen. Unter der Erde, in einer „Notsteuerstelle“ im Keller, verschanzt sich das allerletzte Aufgebot hinter viel Beton und Stahl. Alarm ist gegeben, aparterweise heißt er offiziell „Katastrophenvoralarm“. Noch dringt keine akut gefährliche Strahlung nach draußen. Entbehrliche AKW-Mitarbeiter werden aus dem Betriebsgelände evakuiert. Die Stunde Null verstreicht.
„Alles“, so meint der russische Atomspion Klaus Fuchs – er lebt jetzt, 74 Jahre alt und noch ganz kregel, als Physikprofessor in der DDR -, „alles kommt auf die richtige Ausbildung des Bedienungspersonals an.“ Doch daran hapert es in Ost und West gleichermaßen.
Die weitverbreitete Hoffnung, an den Hebeln eines Kernkraftwerks dürften nur qualifizierte Diplomingenieure hantieren, es herrsche in Sichtweite der hundert Tonnen Uran ein strenges Alkoholverbot und die Atomkraftwerker müßten sich, wie Piloten, regelmäßig physischen und psychischen Fitneß-Testen unterziehen, ist eine schöne Illusion.
Schichtleiter im Reaktorraum sind oft angelernte Hilfskräfte oder ehemalige Betriebsschlosser, die von der Kernkraftindustrie selber ausgebildet und zum „Ingenieur“ befördert wurden (der Titel ist nicht geschützt). Es herrscht die Zuversicht: „Dem Inschenör ist nix zu schwör.“ Meist geht es ja auch gut. Im übrigen bringt der Beruf des KKW-Mannes es mit sich, daß die mögliche Katastrophe perfekt verdrängt wird – das Gefühl, jeden Tag auf einer Bombe zu reiten, ist anders nicht zu ertragen.
„Für wirklich gute Leute, für engagierte Physiker ist die Arbeit in einem KKW weder vom Job noch von der Bezahlung her reizvoll“, urteilt ein hochrangiger Sachkenner, der alle deutschen Meiler von innen kennt. „Elf Monate im Jahr passiert gar nichts. Da sitzen die nur rum. Und plötzlich ist das Tohuwabohu da.“ In nur drei Jahren hat es in den 17 deutschen KKWs 427 gemeldete (!) „Störfälle“ gegeben. Vierzigmal half nur noch die „Schnellabschaltung“, ein Notmanöver.
Wo immer ein Atomkraftwerk gefährlich aus dem Ruder gelaufen ist, ob in Brunsbüttel, Harrisburg oder Tschernobyl, die Handelnden waren bis zum letzten Moment fest davon überzeugt, daß sie in Kürze wieder alles unter Kontrolle haben würden. Freiwillige Warnungen an die gefährdete Außenwelt sind noch niemals aus einem AKW gedrungen. Die deutsche Ministerialbürokratie weiß das. Deshalb werden in Bayern schon alle AKWs „fernüberwacht“ (in anderen Bundesländern soll dies demnächst passieren).
Standleitungen übertragen, 24 Stunden am Tag, die Daten aus dem Reaktor und dem hohen Abluftkamin direkt in eine Zentrale, weit weg gelegen, im Keller des Umweltministeriums im Münchner Arabella-Park. Fernüberwacht wird sogar das Wetter am AKW, und das alles selbstverständlich mit separaten Monitoren, an denen die Kraftwerker vor Ort nicht manipulieren sollen/ dürfen/können.
Die „Kernreaktorfernüberwachung“ (KFÜ) ist eine bayrische Erfindung. Dort funktioniert sie schon seit Jahren. Die Münchner KKW-Wächter trauen offenbar ihren Bier trinkenden Spezln in Gundremmingen, Ohu und Grafenrheinfeld nicht über den Weg. Im Ernstfall soll möglich sein, was die Katastrophenplaner so beschreiben: „Von hinten führen, nicht durch kurzfristige Wahrnehmung von vorn.“
Als erster Führer ist, rein rechtlich, der zuständige Landrat oder Oberkreisdirektor vorgesehen. Er wandelt den „Katastrophenvoralarm“ in den „Katastrophenalarm“ um, „wenn durch einen Unfall oder Störfall in der kerntechnischen Anlage eine gefahrbringende Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Luft festgestellt oder unmittelbar zu befürchten ist“.
Die Doppeldenker des Bundesinnenministeriums – 1. „Mit dem Auftreten kerntechnischer Unfälle mit Auswirkungen auf die Umgebung wird nicht gerechnet“, 2. „Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen“ – lassen in dieser Situation die „zuständigen Behörden, Dienststellen und Hilfsdienste“ alarmieren und dann flugs die „Katastrophenschutzleitung zusammentreten“. Erforderlich ist eine „Mindestbesetzung unter Beteiligung des sachkundigen Vertreters der Betreiber“.
Das sollte alles zügig gehen, denn im Containment steigt – wenn es noch unverletzt ist – der Druck. Ist der Berstschutz an einer Stelle schon defekt, entweicht bereits die tödliche Strahlung.
Dem Krisenstab wird, auf geduldigem Papier, viel zugetraut. Supermänner sind gefragt, nervenstark unter wachsendem Streß, alles kleine Helmut Schmidts in Hochform wie 1962 bei der Hamburger Flutkatastrophe. Nicht solche Konfusanten wie beim olympischen Geiseldrama, München 1972.
Generaloberstabsarzt Ernst Rebentisch, bis 1980 Sanitätsinspekteur der Bundeswehr und davor im Krieg Panzermajor („Habe das Führen noch im OKH gelernt!“), gibt den lokalen Katastrophenschutzleitungen eine schlechte Prognose: „Die Herrschaften haben nicht genug geübt“, sagt der General. Also wird man den Landrat oder Oberbürgermeister gut im Auge behalten müssen: „Was macht denn dieser Knabe? Schafft er’s, oder schafft er’s nicht?“
Der vitale Rebentisch 66, ein belastbarer Kommandeur alter Schule, hat (nach vier Jahrzehnten Dienst am Vaterland) erfolgreich verdrängt, daß die anderen Staatsdiener in der Regel weder vital noch belastbar sind.
Warum wird man denn Verwaltungsjurist, Polizist oder Militärarzt? Weil man sich fürchtet, weil die Angst vor einer freiberuflichen Praxis als Rechtsanwalt oder Arzt (wo man fünfmal soviel Geld verdient) zu groß ist; weil man sich (so der Polizist) vor der Prüfung als Handwerksmeister fürchtet. Beamte lieben die Sicherheit, das Festeinkommen, ihre Unkündbarkeit. Sie scheuen die Verantwortung und schnelle Entscheidungen. Schon die gewöhnlichen Risiken einer kleinbürgerlichen Existenz, unbeschützt vom „Vater Staat“, sind ihnen zuviel.
Im Krisenstab haben sie die satte Mehrheit, und was sie draußen flink und unbürokratisch bewegen sollen, sind Männer ihresgleichen. Gute Nacht, Marie.
Aber: Das Krisenmanagement würde auch dann nicht funktionieren, wenn ein jugendfrischer Helmut Schmidt die Leitung über ganz viele tüchtige Ernst Rebentischs hätte (oder umgekehrt). Es geht gar nicht. Wie will man denn 80000 Landshuter (15 Kilometer vom KKW Isar I), 85000 Schweinfurter (dreieinhalb Kilometer vom KKW Grafenrheinfeld) oder 1,6 Millionen Hamburger (umstellt von vier AKWs) in wenigen Stunden evakuieren? Und gleichzeitig Rettungsmannschaften heranführen, Strahlenmeßtrupps ausschicken, an Hunderttausende die Jodtabletten verteilen, die Verstrahlten „dekontaminieren“, Sterbende aussondern?
Selbst wenn wir ein Volk von jungen Luftwaffenhelfern wären – ohne Kinder, Frauen, Kranke, Greise, Gefängnisinsassen, Haustiere -, gut eingeübt und besten Willens, wäre ein Super-GAU nicht erfolgreich zu managen. Programmiert ist nur das Inferno, Albert Einsteins „Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes“.
Ihre Planer haben um jedes deutsche AKW drei konzentrische Kreise gezogen, die „Zentralzone“ ( Radius: zwei Kilometer), die „Mittelzone“ (zehn Kilometer) und die „Außenzone“ (25 Kilometer), und alle Zonen in zwölf Sektoren unterteilt, durchnumeriert im Uhrzeigersinn. So kommt, hoffen sie, Ordnung in das atomare Chaos.
In der Zentralzone, wo die Orte liegen, die den Meilern ihre Namen und Felder gaben – im Austausch für ein paar Mark Gewerbesteuer und ein elektrisch beheiztes Schwimmbad– wird die tödliche Strahlung schnell wirken. Hier spielt die Windrichtung keine Rolle. Es stellt sich auch nicht die Frage flüchten oder standhalten. Wenn Zeit bleibt, weil das Containment noch dicht hält, sollen die AKW-Nachbarn alle sofort evakuiert werden. Den Familien der Betreiber wird dabei wohl ein Vorsprung bleiben, denn die Telephone nach draußen funktionieren voraussichtlich noch.
Die verschiedenen Sektoren der Mittel- und Außenzonen sollen danach, abhängig von der „Gefahrenlage“ und dem Wind (er darf sich nicht drehen!), „vorsorglich geräumt“ werden. Das Innenministerium des Landes Baden-Württemberg stellt sich das wie einen netten Picknickausflug vor:
“ Wenn die Evakuierung angeordnet ist, mit der Familie “
“ im eigenen Wagen in die Aufnahmegemeinde fahren, die “
“ angegeben wird. Hilfsbedürftige Nachbarn nicht vergessen. “
“ Nur persönliche Dinge mitnehmen, wie sie für eine kürzere “
“ Reise benötigt werden. An die wichtigsten Unterlagen “
“ (Ausweise, Scheckheft, Schecckarte) denken. Haus und “
“ Wohnung abschließen. Den Weisungen der Polizei zur “
“ Lenkung des Verkehrs Folge leisten. Wer kein eigenes “
“ Fahrzeug hat: nach Anordnung der Evakuierung zu dem “
“ Sammelpunkt gehen, der angegeben wird. Dort stellt die “
“ Katastrophenschutzbehörde Busse und andere “
“ Transportmittel bereit. “
Und bitte das Telephonieren „möglichst vermeiden“, die lästigen „Rückfragen bei Polizei und Feuerwehr“. Es versteht sich auch, daß man die „Zufahrtswege der Einsatzkräfte“ nicht durch seinen Rückzug „blockieren“ darf. Keine Sorge, Ihre „Ortschaft bleibt unter Aufsicht“.
14500 „Frühtodesfälle“ hat die amtliche „Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke“
1979 für den Super-GAU errechnet, diese Zahl jedoch sofort in ein fernes Utopia projiziert, denn der Schadensfall sollte nur einmal in zwei Milliarden (!) Betriebsjahren eintreten.
Nun, wo alles sehr viel näher gerückt ist, wird selbst dem Oberstarzt Messerschmidt blümerant: „Ich sehe schon die langen Autokolonnen der Evakuierten, die bestrahlt werden.“
In der Katastrophenplanung kommen Staus, Panikreaktionen und Auffahrunfälle nicht vor. Alles fließt, „mit dem letzten bißchen Sprit im Tank“, wie General Rebentisch unkt. „Manche werden wie die Irren herausrennen“, vor allem die „völlig Desinformierten“.
Vor die Wahl gestellt, das Heil in der Flucht oder im Keller zu suchen, optieren die Militärs für Standhalten und Deckungnehmen. Es gelte, die Faustregel der Wehrmediziner zu beherzigen: „Auf offenem Feld bekommt man 100 Prozent der jeweiligen Strahlendosis ab, in einem Haus ohne Türen und Fenster nur 30 Prozent, bei geschlossenen Türen und Fenstern noch zehn Prozent und im Keller nur ein Prozent.“
In dieser Situation wäre ein eigener Geigerzähler natürlich von großem Vorteil. Denn die offiziellen Strahlenwerte, soviel hat jeder aus Tschernobyl gelernt, werden zu spät kommen und geschönt (gefälscht, gelogen) sein. Die Gefahr kann nur richtig abschätzen, wer beispielsweise ein Gammastrahlen-Dosisleistungsmeßgerät der Firma Berthold (rund 3000 Mark teuer) sein eigen nennt oder den „Contamat“ (4500 Mark) der Erlanger FAG Kugelfischer.
Ende dieses Jahres werden die vier renommierten deutschen Hersteller von Strahlenmeßgeräten jeweils einen handlichen, batteriegespeisten Geigerzähler auf den Markt bringen, Preisidee: 1000 bis 1500 Mark. „Damit wird man sehr sauber messen können“, verspricht Dr. Kreiner von FAG Kugelfischer. Und ganz bestimmt werde dieser Apparat „nicht zwischen Daumen und Zeigefinger zerbrechen“ – wie die gewöhnlichen, viel zu ungenauen „Volksgeigerzähler“, die bestenfalls jedes hundertste Becquerel registrieren.
Radioaktive Strahlung spürt man nicht, denn sie tut nicht weh, und der Mensch hat kein Sinnesorgan, um sie wahrzunehmen. Deshalb werden die deutschen Feuerwehrleute und Rot-Kreuz-Helfer so tapfer sein wie ihre ukrainischen Kollegen. Wohlhabenden, vorsorglichen Männern mit einem eigenen Meßgerät wird es in den drei konzentrischen Kreisen des Todes psychisch schlechter gehen, physisch dagegen besser. Wer weiß, ob und wie stark die Atomruine strahlt, der kann seine Evakuierung selbst lenken: entweder sich hinter die dicksten Mauern des Hauses flüchten oder noch rechtzeitig Reißaus nehmen, schnell weg vom AKW und der tödlichen Strahlenwolke.
Dazu muß man wissen, woher der Wind weht (Wetterfahne an der Garage) und ein stets vollgetanktes, startbereites Motorrad besitzen. Empfehlenswert ist eine leichte Geländemaschine, eine Enduro (ab 4000 Mark), denn die fährt Wald- und Wiesenwege, auch durch den Straßengraben und querfeldein. Wer in ruhigen Tagen alternativ die drei verkehrsarmen Fluchtwege ausbaldowert, schafft auch am Tag X, es kann dunkle Nacht sein, in einer Stunde 30 Kilometer – das ist, voraussichtlich, der Unterschied zwischen Leben und Tod. Nicht vergessen: Geigerzähler, Geld, Kofferradio, Valium (in dieser Reihenfolge). Und üben, üben!
Der nicht privilegierten Bevölkerung soll die Flucht übungshalber nicht zugemutet werden. Denn ein realistisches Szenario würde der Anti-AKW-Bewegung mächtig Auftrieb geben, selbst dann, wenn die Großkopfeten und ihre Kinder nicht mit dem Hubschrauber ausgeflogen würden. „Breite Übungen sind praktisch undurchführbar“, urteilt Rebentisch.
Für den Tag der Katastrophe hat der alte General auch schon ein Verdikt parat: „Die entscheidende Versagenskomponente ist immer der Mensch.“ Das hat Einstein auch gemeint.
Übrigens werden in den Wochen nach dem Super-GAU alle bundesdeutschen Kernkraftwerke stillgelegt, für immer.