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(K)eine Weihnachtsgeschichte
Ernst Albrecht kaute an seinem Füllfederhalter. Er schenkte sich eine Tasse Tee ein und knabberte einen Bahlsen-Keks. Das Haus lag im Dämmerlicht, er zündete die Kerzen seines Adventskranzes an. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann… Sollte er oder sollte er nicht? Der Kanzler aus Bonn quälte ihn seit Monaten. Dessen klare Kante: Ohne ein nukleares Entsorgungszentrum keine weiteren Atomkraftwerke. Das Atomkraftwerk in Brokdorf, das war der Einstieg in eine strahlende Zukunft. Sollte es sein! Aber ohne den Nachweis, was man mit dem Atommüll machen würde, gäbe es keine AKW-Armada. So war das jetzt.
Der Kanzler hatte ihm neulich einen gewichtigen Bericht geschickt, 850 Seiten, aus der Enquete-Kommission des Bundestages. Da wurden Strommengen nicht mehr in Kilo-, Mega- oder Gigawatt gemessen, da ging es um Terawatt. Von acht auf 35,7 Terawatt schoss demnach der Weltenergiebedarf von 1976 bis 2030 durch die Decke… Ernst blätterte in dem dicken Wälzer. Er seufzte und griff nach einem weiteren Keks, nippte an dem Tee. Ihr habt doch klasse Salzstöcke, hatte der ihm bei einer Sitzung der Ministerpräsidenten in Bonn bedrohlich zugeraunt.
Der Kanzler blieb stur. In Bonn hatten sie der Wirtschaft angeraten, schon mal ein Suchverfahren auf den Weg zu bringen. Die KEWA, die Kernbrennstoff-Wiederaufbereitungsgesellschaft, hatte eine lange Liste möglicher Standorte erstellt. Ernst kratzte sich mit dem Füller am Kopf. Dabei hatte die Voruntersuchung der KEWA, hatten Gutachter sehr wohl auch Salzstöcke in anderen Bundesländern aufgelistet, in Schleswig-Holstein etwa. Mit der Forderung, ein eigenes Auswahlverfahren zu veranstalten, ging die Aufgabe zu einer Standortbenennung jedoch ausschließlich auf Niedersachsen über. Mannomann!
Ernst stützte sich schwer auf den eichenen Schreibtisch. Seit Anfang des Jahres war er der Ministerpräsident Albrecht, er konnte es immer noch nicht fassen, woher die Stimmen für ihn eigentlich kamen. Er hatte tatsächlich den SPD-Mann Kubel vom Thron gestoßen, aber das war eine äußerst wackelige Angelegenheit, ihm fehlte die absolute Mehrheit.
Es dämmerte schon, die Tage waren kurz. Es nieselte. Er lauschte in das Haus hinein. Aus dem Obergeschoss von „Tundrinsheide“, wie seine Tochter Ursula „Röschen“ die Klinkervilla in Beinhorn nannte, ertönte Klaviermusik. Seit seiner überraschenden Wahl zum Ministerpräsidenten im Februar was das nun ihr neues Heim. Röschen übte mit ihren Brüdern Jägerlieder, die sie mit den Geschwistern im NDR singen würde. Weihnachten würden sie wieder unter der Regie seiner Frau Heide Adele alle zusammen musizieren. Ach, und bald würde Röschen das Haus verlassen, sie wollte in Göttingen Archäologie studieren. Warum nicht Geologie, dann hätte sie einen festen Job, fragte er sie. Doch Röschen lachte, sie hätte größere Pläne, er würde schon noch staunen, eines Tages!
Ernst schaute auf die Aktenberge, die schauten zurück. Da lag die KEWA-Akte. Fünf Tiefbohrungen an drei möglichen Standorten sollte es geben. Das würde dauern, aber er sollte doch schon liefern! Sofort! Ein Standort schied schon mal aus. Die Gebrüder Remmers im Emsland spielten nicht mit, würde er sein Kreuzchen bei Wahn oder Zwischenahn machen, dann hätte er noch eine Stimme weniger im Landtag und er könnte seinen Thron gleich wieder räumen, wäre gleich wieder raus.
Da lag die TÜV-Studie, das eigene Auswahlverfahren. Streng vertraulich! Lediglich das Oberbergamt in Clausthal und sein Landesamt für Geologie wurden eingeweiht. Sieger des Castings war eigentlich ein Salzstock in Schleswig-Holstein. Er schaute sich die Seite 50 wieder und wieder an. Die gab es ja gleich zweimal! Einmal jedoch waren die Grube Mariaglück bei Celle und Gorleben handschriftlich nachgetragen.
Ein Fingerzeig!
Er legte den Füller aus der Hand. Nein, dachte er, jetzt kommt erst einmal Weihnachten. Das Fest des Friedens. Er würde seinem Kabinett vorschlagen, die Entscheidung noch einmal zu vertagen.
Ernst lehnte sich zurück und lauschte ins Haus hinein. Tatsächlich, jetzt erklang im Obergeschoss sein Lieblingslied „Es ist ein Ros entsprungen!“ Er lächelte.
Am 22. Februar 1977 wurde das Ergebnis bekanntgegeben: Gorleben.
Anmerkungen: Ursula „Röschen“, die Namensgebung ist keine Erfindung des Geschichtenschreibers. Die heutige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, Tochter des damaligen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, wurde wirklich im Familienkreis so genannt. Belegt ist nicht nur das….
Und der Kanzler, das war natürlich Helmut Schmidt.
Jüngere Leute baten den Geschichtenschreiber um diese Ergänzungen.
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