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Die 60-Sekunden-Zeitmaschine
In ihrer Reihe „Die 60-Sekunden-Zeitmaschine“ widmet sich NDR 1 heute einem der legendärsten Castortransporte nach Gorleben: Am 5. März 1997 saßen tausende Menschen auf der Straße vor dem Verladekran Dannenberg. Die Geburtsstunde von „X-tausendmal quer“.
Mit echten Demogeräuschen untermalt erzählt NDR-Moderator Jens Krause den bis dahin größten Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik: 30.000 Polizisten waren im Einsatz, am Ende kostete der Castor-Transport 100 Millionen DM.
Soweit so gut, nur leider das Ende des Berichts nicht. Mit den Worten „der Rest ist Geschichte“, beendet Krause seine 60 Sekunden.
Doch auch wenn die Castoren seit 2011 nicht mehr rollen dürfen, „Geschichte“ ist hier im Wendland leider gar nichts:
- In der Zwischenlagerhalle Gorleben stehen über 100 Behälter mit hochradioaktiven Abfällen, niemand weiß heute, wohin damit. Die Lagergenehmigung läuft in absehbarer Zeit aus. Wie lange die Behälter dicht bleiben, ist unklar.
- Das benachbarte Salzbergwerk wird zwar zur Zeit nicht mehr ausgebaut, es ist aber trotz der Tatsache, dass es als Endlager untauglich ist und „politisch verbrannt“ ist, weiter mit im bundesweiten Suchverfahren geblieben. Scheitert die „neue Suche“, bleibt wieder alles an Gorleben hängen, wo schon fast 2 Milliarden Euro investiert wurden.
- Der Widerstand gegen die Atomanlagen ist noch lange nicht „Geschichte“. Aber er hat bereits „Geschichte geschrieben“. Einen spannenden Exkurs dazu kann man im Gorleben Archiv bekommen.
Mit dem ersten großen Sammel-Castor, vorher kamen die Behälter einzeln, brannten sich im März 1997 die Bilder von brutalen Wasserwerfereinsätzen und unverhältnismäßiger Polizeigewalt gegen friedliche Menschen in die Köpfe. Ein Lehrstück der Demokratie, nicht nur für die Menschen im Wendland. Diese Eskalation festigte den Anti-Atom-Widerstand – und war ein Baustein für den ersten Atomausstiegsbeschluss im Jahr 2000.
Rückblick: Der dritte Castor nach Gorleben
Am 28. Februar um 8.00 Uhr startet der Castor-Transport aus dem baden-württembergischen Atomkraftwerk Neckarwestheim seine Fahrt mit Ziel Gorleben.
An der Auftaktkundgebung in Lüneburg beteiligen sich am 1. März mehr als 20.000 Menschen, unterstützt von ca. 100 Landwirten mit ihren Traktoren. Im Anschluss an die Demo verteilen sich viele der AtomkraftgegnerInnen auf zwölf Camps entlang der Schienen- und Straßentransportstrecke zwischen Lüneburg und Gorleben. Die Polizei räumt die von SchülerInnen besetzte Turnhalle in Hitzacker.
Etwa 600 Trecker der Bäuerlichen Notgemeinschaft fahren am 2. März unter dem Motto „Stunk-Parade“ die Straßentransportstrecke von Gorleben nach Dannenberg ab. Ca. 20.000 Menschen säumen die Strecke.
Abends beginnt nach der Kundgebung mit 80 Treckern eine Blockade der Transportstrecke in Splietau, in Sichtweite zum Verladekran Dannenberg. Barrikaden und Gräben entstehen auf bzw. unter der Transportstrecke.
Am Abend des 4. März beteiligen sich nach Schätzungen der Bürgerinitiative zwischen 10.000 und 15.000 Menschen an den Protesten gegen den Atommülltransport, die sich auf oder in der Nähe der Transportstrecken aufhalten.
5. März – Gewaltsame Räumung von X-tausendmal quer
Um 0.27 Uhr beginnt die Polizei mit der Räumung der großen Sitzblockade „X-tausendmal quer“ auf der Straße am Verladekran Dannenberg. „Es wird zwar geräumt, aber Sinn macht das hier alles nicht“: Nach einer Stunde sind die ersten fünf Reihen Protestierender weggetragen. Gegen 2.00 Uhr hat die Polizei die ersten 50 Meter Straße frei, die Menschen werden an die Seite getragen, die meisten nehmen direkt wieder auf der Straße Platz.
Um 4.00 Uhr sind ca. 300 Meter der Zufahrtstraße vor dem Verladekran geräumt. Noch immer halten tausende Menschen die Transportstrecke besetzt. Die Polizei unterbricht die Räumung und lässt ab 5.00 Uhr Wasserwerfer einsetzen. Mit wenig Druck werden die DemonstrantInnen „eingeregnet“, es herrschen Minusgrade.
Gegen 5.30 Uhr sind vor dem Verladekran Dannenberg vier Wasserwerfer im Einsatz, die stetig den Wasserdruck erhöhen. Trotzdem bleiben die meisten Menschen sitzen, lassen sich naßregnen und wegräumen. Aktuelle Schätzungen belaufen sich auf 9.000 AtomkraftgegnerInnen.
Ab 6.30 Uhr richtet die Polizei den Strahl der Wasserwerfer direkt auf die Menschen auf der Straße, es wird jetzt auch geknüppelt, vereinzelt wird gezielt in die Gesichter der Menschen geschlagen.
Ab 7.15 Uhr sind Einheiten der Magdeburger Polizei eingesetzt, die besonders brutal vorgehen. Zwischen Bäumen haben drei AktivistInnen ein Seil gespannt und befinden sich über der Transportstrecke. Auch bei einer Sitzblockade von ca. 500 Personen bei Quickborn setzt die Polizei Wasserwerfer ein und drängt die Menschen in den Wald.
Gegen 8.00 Uhr kündigt die Polizei noch härteres Vorgehen gegen die Menschen auf der Zufahrt des Verladekrans an: Trotz des Einsatzes von Wasserwerfern erfolgt die Räumung nicht schneller als ohne. Die Straße ist erst bis zu den ersten Häusern frei. Große Planen sind über die Köpfe der Menschen auf der Straße gespannt, die Stimmung bei ihnen ist nach wie vor gut.
„Nichts, aber auch gar nichts ging dadurch schneller voran. Auch die Aufrufe aus dem Lautsprecherwagen, doch wieder dazu überzugehen, die Menschen wegzutragen, helfen nicht weiter. Bemühungen der Organisatoren von X-tausendmal Quer, den Einsatzleiter zu kontaktieren, schlagen fehl, er ist schlichtweg „nicht erreichbar“, auch Lautsprecherdurchsagen mit der Bitte um Gespräche bleiben ergebnislos.“ (X-tausendmal quer)
Ab kurz nach 9.00 Uhr setzt die Polizei auch von auf B191 aus Seybruch kommend Wasserwerfer gegen die Sitzblockade ein. Berliner und Magdeburger Einheiten räumen brutal von zwei Seiten die Menschen von der Straße. Stehend auf einem Wasserwerfer versucht die Polizei, die Menschen auf den Seilen zu erreichen. Diese sind festgekettet und wurden von den Wasserwerfern direkt beschossen.
„Anzusehen war es den Männern und Frauen des BGS, nicht nur die physischen Kräfte waren am Ende, auch die psychische Belastbarkeit war erreicht. Daß Vereinzelte durchdrehten, war da unausbleiblich.“ (X-tausendmal quer)
Kurz vor 10.00 Uhr hat die Polizei die Straße geräumt. Auf einem benachbarten Acker wurde ein großer Kessel gebildet, in dem sich 1.000-2.000 Menschen befinden. Es hängen noch AktivistInnen an Seilen zwischen Bäumen über der Transportstrecke. „Dann rollen die Castoren eben unter ihnen durch“, so die Polizei.
Etwa gegen 11.45 Uhr verlassen die Castor-Tieflader den Verladebahnhof Dannenberg.
- Auszug aus: Gorleben Archiv, Chronik 1997