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Die Unverbesserlichen
Zwischen Wut und Trotz bewegen sich die Reaktionen der Nuklearlobby angesichts der Abschaltung der letzten deutschen Atomkraftwerke. Sie verstehen die Welt nicht mehr, weil sie es gewohnt waren, als Besserwisser und Alleskönner aufzutreten, denen eine ängstliche, weil unwissende Gesellschaft Folge zu leisten hätte. Lange Zeit hat ihnen die Politik jeden Wunsch erfüllt, während der mediale Mainstream die vermeintlichen Wunderwerke der Technik pries.
Als eine rot-grüne Bundesregierung vor zwei Jahrzehnten den ersten Ausstiegsbeschluss fasste, waren die Nuklearisten zuversichtlich, dass sich in einem so langen Zeitraum Einiges ändern würde. Sie sollten recht behalten, Union und FDP waren ihnen 2010 zu Diensten, doch ein SuperGAU in Japan machte den Ausstieg aus dem Ausstieg alsbald zunichte. Und wieder bekam die Atomwirtschaft eine 11-Jahresfrist, um ihre nächste Renaissance zu organisieren. Das hat aus verschiedenen Gründen nicht funktioniert, unter andem weil sich eine CDU-Kanzlerin kein zweites Mal täuschen lassen wollte.
Dementsprechend war der 15. April 2023 kein Anlass für ein Innehalten oder für kritische und selbstkritische Rückblicke auf sechzig Jahre kommerzieller Atomenergie. Was haben wir angerichtet, warum geschah es so? Warum dauerte es so lange, bis Konsequenzen gezogen wurden? Was hätte man anders und besser machen können? Wenn nur ein Bruchteil der staatlichen Subventionen für die Atomwirtschaft in erneuerbare Energien investiert worden wäre, wie stünden wir heute da?
Stattdessen gab es die vorläufig letzte Wiederholung abgenutzter Argumente, heftige Anklagen gegen grüne alte Männer und deren angeblich ideologische Sturheit, dramatische Warnungen vor einer Energiekrise, geschönte Darstellungen der „besten und sichersten Reaktoren“ der Welt. Allerdings blieb das propagandistische Trommelfeuer arm an Wirkung. Das lag nicht nur daran, dass die Entscheidungen schon vorher gefallen waren. Es lag auch daran, dass ein maßgebliches Geschütz der nuklearen Division plötzlich ausfiel.
Die ZEIT hatte belastendes Zitaten-Material von Springer-Chef Mathias Döpfner dokumentiert. Damit befand sich der Dirigent vieler Kampagnen gegen die Energiewende in einer peinlichen Situation, und sein auflagenstarkes Blatt schlagzeilte am letzten Tag des Ausstiegs nicht etwa „Deutschland schafft sich ab“ oder „Scholz und Habeck drehen uns den Saft ab“, sondern nur noch: „Was ist los bei BILD?“ Die Enthüllung richtete einen spürbaren Kollateralschaden an: die FDP wurde kleinlaut mit ihrer Forderung nach einer weiteren Laufzeitverlängerung bis ins nächste Jahr. Denn aus den Döpfner-Sprüchen geht hervor, dass der Merkel-Hasser seine Medienmacht zugunsten der Liberalen einsetzen wollte, um „das grün-rote Desaster“ zu vermeiden.
So stolperte die Atomgemeinde im Endspurt an ihrem eigenen Personal. Ins Schlingern, wenn auch nur kurzfristig, geriet allerdings auch ein Akteur der anderen Seite. Robert Habeck war nach Kiew gereist, um deutsche Hilfe bei der Nutzung erneuerbarer Energien in der Ukraine zu verkünden. Auf die Frage, wie er zu den ukrainischen Atomkraftwerken stehe, antwortete der Wirtschaftsminister: „Die Ukraine wird an der Atomkraft festhalten. Das ist völlig klar – und das ist auch in Ordnung, solange die Dinger sicher laufen. Sie sind ja gebaut.“ Nicht nur von den Oppositionsparteien wurde er in den folgenden Tagen natürlich gefragt, wieso es nicht in Ordnung sei, dass Isar-2, Neckarwestheim-2 und Emsland weiter laufen.
Möglicherweise wollte der Minister nur zum Ausdruck bringen, dass Unterschiede in der Energiepolitik nichts an seinem Schulterschluss mit der ukrainischen Regierung ändern. Aber in Kriegszeiten kann der Schulterschluss nicht eng genug sein: alles, was der Verbündete macht, muss auch richtig sein. So kommt es zu politischen Verwirrungen.
Völlig klar ist nämlich, dass Atomkraftwerke in einem Kriegsgebiet nicht sicher betrieben werden können: Das ist der Inhalt von, Stand jetzt, 153 Updates der Internationalen Atomenergie Agentur zur nuklearen Sicherheit in der Ukraine. Dutzendfach hat der Generaldirektor der IAEA, Rafael Grossi, davor gewarnt, dass sich jederzeit eine radiologische Katastrophe mit schweren Folgen für die Ukraine, Russland und Europa ereignen könne. Dessen ungeachtet setzt eine wild entschlossene Soldateska beider Kriegsparteien ihre Attacken rund um das AKW Saporischschja fort.
Die Ukraine wäre also sehr gut beraten, unverzüglich eine Transformation ihrer Energiewirtschaft in Angriff zu nehmen. Stattdessen schlägt Kiew einen nuklearen Hardcore-Kurs ein. Neun Reaktoren des Typs AP-1000 sollen vom US-Konzern Westinghouse bezogen werden. Wer kann das bezahlen? Habecks gut gemeintes (oder vielleicht auch nur grün gewaschenes) Hilfspaket blüht das gleiche Schicksal wie den Abermillionen, die von der Bundesregierung und der EU-Kommission in den letzten drei Jahrzehnten an Kiew für ein erneuerbares Energiesystem überwiesen wurden. Die Gelder könnte man gleich an Westinghouse transferieren. Solche Umwidmungen sind in der EU leider gang und gäbe, wie zuletzt das Beispiel Italien zeigte, wo man Coronahilfen für den Bau von Fussballstadien verwenden will.
Habecks problematischer Auftritt in Kiew ist nicht die einzige Relativierung des deutschen Atomausstiegs. Seit Jahren weisen Bürgerinitiativen vor allem im Münsterland darauf hin, dass in Gronau (NRW) und Lingen (Niedersachsen) Uran ohne zeitliche Befristung verarbeitet wird. Es handelt sich um die Urananreicherung des deutsch-niederländisch-britischen Konsortiums Urenco und um die Brennelementfertigung der Advanced Nuclear Fuels GmbH, ein Tochterunternehmen des französischen Reaktorbauers Framatome (früher Areva).
Urenco bezieht russisches Natururan und reichert es für den Einsatz in Leichtwasserreaktoren aniii. Seine Kunden sind Brennelement-Hersteller in aller Welt, wobei das benachbarte Lingen eine immer geringere Rolle spielte. Dort will man nun mit bereits angereichertem Uran aus Russland alte Sowjetreaktoren in Osteuropa mit Brennelementen bedienen. Zu diesem Zweck hat Framatome nach Angaben des niedersächsischen Umweltministeriums ein Joint Venture mit der russischen Anreicherungsfirma TVEL gegründet, die eine Tochter von Rosatom ist. Diese Nuklearbeziehungen stehen in krassem Widerspruch zur Sanktionspolitik gegen Russland. Habeck hat das Problem auf die EU geschoben: In Brüssel werde man sich dafür einsetzen, dass das nächste Sanktionspaket Maßnahmen gegen die nuklearen Geschäfte mit Russland enthält. Andere Möglichkeiten gibt es nicht? Die Betriebsgenehmigungen lassen sich nicht widerrufen? Die atomrechtliche Aufsicht ist machtlos? Das klingt nicht gerade überzeugend.
Urenco ist ein bedeutender globaler Player im Anreicherungsgeschäft. ANF schickt sich an, ein Verbindungsglied zur russischen Nuklearwirtschaft zu werden. Es handelt sich um zwei strategische Firmen, die hierzulande allerdings nicht mehr gebraucht werden. Doch Wirtschaft und Politik möchten sich nicht aus der nuklearen Lieferkette verabschieden. Außerdem: Wenn eine andere politische Mehrheit zur Atomenergie zurückkehren möchte… Dann muss man nicht von Null beginnen.
Tatsächlich deuten die Statements führender Unionspolitiker in diese Richtung. Angela Merkels Erkenntnis, dass die Risiken der Nukleartechnik nicht beherrschbar sind, findet in CDU/CSU keine Stimme mehr, die sich noch Gehör verschaffen könnte. Stattdessen will der bayrische Ministerpräsident den Rückbau von Isar-2 verzögern, weil er auf eine Gelegenheit hofft, den Altreaktor noch einmal anzuwerfen.
Schwamm drüber, weil das Kapitel so oder so zu Ende gebracht wurde? Allerdings bleibt dieser gravierende Rückschritt nicht folgenlos. Die Perpetuierung der Atomdebatte ist eine schwere Last für die Bewältigung der Aufgabe, eine Lösung für den Atommüll zu finden. Hieran sind alle bisherigen Bemühungen gescheitert, und sie werden bei dieser Lage der Dinge auch weiter scheitern.
Vielfach ist schon in Vergessenheit geraten, dass der Betrieb von Atomkraftwerken ursprünglich an die Bedingung geknüpft war, einen Entsorgung des radioaktiven Abfalls nachzuweisen. Nach über einem halben Jahrhundert kann festgestellt werden, dass dieser Nachweis nie existiert hat. Was es gegeben hat, waren Pläne, Verträge mit ausländischen Unternehmen, Projekte, also: Papier. Dass der Bundestag das Atomgesetz wiederholt aufgeweicht hat, um den Skandal nicht rechtswirksam werden zu lassen, ändert nichts daran, dass der AKW-Betrieb jahrzehntelang gegen das Gesetz verstoßen hat, mit dem er überhaupt ermöglicht wurde.
Welche Gemeinde, welcher Landkreis, welches Bundesland wird nach solchen Erfahrungen einwilligen, als Standort für ein Endlager zu dienen? Nur damit die nächste oder übernächste Bundesregierung von neuem beginnt, Atommüll zu produzieren? So manche Rechnung ist noch nicht beglichen. Je länger man damit wartet, desto teurer wird es.