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Wiederkehrende Missverständnisse bei der Atomenergie
Seit einem halben Jahr untersucht der 2. Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Bundestags die Modalitäten des deutschen Atomausstiegs in der Zeit vom Februar 2022 bis zum Juli 2024. Es geht also um die Stilllegung der letzten drei Atomkraftwerke, die damals noch in Betrieb waren und sechs Prozent zur einheimischen Stromproduktion beitrugen. Der Ausschuss hat den Auftrag, „sich ein Gesamtbild von den Entscheidungsprozessen sowie deren Kommunikation an den Bundestag und an die Öffentlichkeit zu verschaffen. Dies gilt vor allem für die Entscheidungen über einen möglichen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke.“
Der Hintergrund: Unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine fürchteten Unternehmen und wirtschaftsnahe Politiker eine drohende Energiekrise wegen ungenügender Versorgungssicherheit. Freilich hatten diejenigen, die am dringlichsten vor Stromausfällen warnten, schon immer behauptet, ohne Atomenergie gingen die Lichter aus. Der Druck, den sie gleichwohl erzeugen konnten, veranlasste Bundeskanzler Olaf Scholz, den Ausstieg um ein Vierteljahr zu verschieben. Statt zum Jahresende wurden die Kraftwerke Isar-2, Emsland und Neckarwestheim-2 am 15. April 2023 abgeschaltet.
Ein Fehler, eine Dummheit, gar eine Verrücktheit sei das gewesen, dröhnt es nun aus den Reihen von CDU, CSU, AfD und FDP im laufenden Wahlkampf. Sie fordern einen Wiedereinstieg in die Atomenergie, der dann die vierte Kehrtwende der deutschen Nuklearpolitik wäre. Um diese zirkulöse, freilich für die Atomwirtschaft typische Politik mühsam zu begründen, soll ihnen der Untersuchungsausschuss Hinweise liefern, dass bei den Entscheidungen des Jahres 2022 Einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen sei.
Ein bürokratischer Vorgang im Bundeswirtschaftsministerium war vom Magazin Cicero zum Skandal aufgeblasen worden. Demnach hatte ein Beamter einen Vermerk über den möglichen Weiterbetrieb von Atomkraftwerken angefertigt, der nicht nach oben zum Minister, sondern nach unten in den Papierkorb gelangt sei. Derart soll eine grüne Seilschaft im Ministerium angebliche Fachargumente unterdrückt und gegen die ideologiefreie, ergebnisoffene Meinungsbildung verstoßen haben, eine Demütigung des deutschen Beamtentums!
Falls diese Darstellung stimmt, hat der fragliche Staatsbedienstete Argumente zusammengetragen, die von Experten mit beschränkter Haftung bereits hundertfach öffentlich heruntergebetet worden waren. Steffi Lemke und Robert Habeck als die zuständigen Regierungsmitglieder ließen sich dadurch nicht beirren. Unter anderem brachten sie vor, eine Laufzeitverlängerung sei auch aus Sicherheitsgründen nicht zu vertreten; so habe man die zehnjährige periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) angesichts des nahen Betriebsendes schon 2019 ausgesetzt. Die müsse man als erstes nachholen und dafür Monate veranschlagen, falls man noch etwas mit den alten Kraftwerken anfangen wollte.
Das Argument war überzeugend – aber es dauerte nicht lange, bis die Nuklearisten ihren Gegenangriff starteten. Zwanzig Professoren veröffentlichten „unter Mitwirkung der geschätzten Kollegin Anna Veronika Wendland“ eine Stuttgarter Erklärung für den Weiterbetrieb von Kernkraftwerken und sammelten dafür sagenhafte 58 477 Unterschriften. Dann packte die unermüdlich für Atomenergie werbende Publizistin Wendland ihr Gegenargument aus. Die Bundesregierung habe „nachweislich und systematisch unwahre Aussagen über den Sicherheitszustand und die Laufzeitverlängerungs-Optionen der deutschen Kernkraftwerke“ gemacht, behauptete sie (hier zitiert nach ihrer Aussage vor dem Untersuchungsausschuss). Erstens werde eine PSÜ während des laufenden Betriebs durchgeführt und zweitens sei sie auch nicht ausschlaggebend für eine Beurteilung des Ist-Zustands der AKWs. Hierfür seien die sogenannten wiederkehrenden Prüfungen vorgesehen, mit denen sicherheitsrelevante Komponenten der Kraftwerke regelmäßig überprüft würden. Der TÜV-Süd, der eine Laufzeitverlängerung für Isar-2 als unbedenklich eingestuft hatte, erklärte, die Anlagen seien „auf Herz und Nieren und ganz engmaschig“ geprüft worden. Dabei hätten sich keine nennenswerten Beanstandungen ergeben.
Angesichts solcher kompetenten Auskünfte setzte sich die Meinung durch, das atomare Aus sei im April 2023 ohne triftigen Anlass erfolgt und man hätte die AKWs mit neuem Brennstoff ohne weiteres noch jahrelang betreiben können. Und so wird eine Meinung unmerklich zu einer Tatsache deutscher Ingenieurskunst, die wir über den grünen Klee zu loben haben. Damit ist freilich noch nicht bewiesen, wer in diesem Fall nachweislich und systematisch unwahre Aussagen getätigt hat. Es kommt nämlich darauf an, wie oft die wiederkehrenden Prüfungen wiederkehrten und was dabei genau gemacht wurde.
Dies ist nicht nur eine Frage der Befolgung des Regelwerks kerntechnischer Anlagen und der Praxis einer sogenannten Sicherheitskultur. Vielmehr gab es im Jahr 2022 einen sehr konkreten Anlass, bestimmte Kraftwerkskomponenten unverzüglich unter die Lupe zu nehmen. Denn in Frankreich waren Ende 2021 gravierende Korrosionsschäden an den Reaktoren der AKWs Civeaux und Chooz entdeckten worden. In der Folge wurde der gesamte Kraftwerkspark bei unseren Nachbarn überprüft, und in jeder zweiten Anlage wurden die gleichen Defekte diagnostiziert. Sogenannte Spannungsrisskorrosionen betrafen die Anschlüsse von Not- und Nachkühlsystemen an den primären Kühlkreislauf. Was bedeutete dieser Befund, der aus Gründen der Genauigkeit umständlich und leider auch undurchsichtig formuliert wird? Die korrodierenden Stellen befanden sich innerhalb des Primärkreislaufs. Damit war die Kühlung des Reaktors tangiert. Das erklärt die damalige Aufregung bei der französischen Atomaufsicht.
Konnte so etwas auch in deutschen Kraftwerken, die nach Alter, Leistung und Design den Anlagen von Civeaux und Chooz ähneln, passiert sein? Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) berichtete in einem informativen Artikel über die Probleme in Frankreich, um am Ende lapidar festzustellen, dass eine Übertragbarkeit auf deutsche Kernkraftwerke nicht gegeben sei: „Die deutschen Anlagen werden regelmäßig mit geeigneten Verfahren geprüft … Bei diesen Untersuchungen wurden bislang keine Risse dieser Art festgestellt.“ Bedenken ausgeräumt?
Nicht beim Autor dieses Berichts. In Emails mit der GRS ließ sich zunächst klären, dass man bei den drei letzten deutschen Atomkraftwerken insgesamt 48 Schweißnähte hätte ansehen müssen, um den in Frankreich aufgetretenen Problemen nachzugehen. Wiederkehrende Ultraschallprüfungen seien in den deutschen Anlagen regelkonform durchgeführt worden, nämlich alle fünf Jahre, erklärte GRS, die letzten 2019, 2020 und 2021. Signifikante Risse, wenn es welche gegeben hätte, wären dabei „sicher erkannt“ worden (1). Das legt nahe, dass in den drei AKWs jeweils 16 kritische Schweißnähte in den genannten Jahren überprüft worden wären. Allerdings lässt sich sinnerfassendes Lesen (Unterrichtsstoff der Schulklassen 5-7) nicht ohne weiteres auf den Bereich der Nukleartechnik anwenden. Ein Satz in der Email der GRS sagt nämlich etwas Anderes aus: „Nach unserem Kenntnisstand sind bisher im Laufe der Betriebszeit bei den drei Konvoi-Anlagen zusammen 46 der insgesamt 48 Schweißnähte geprüft worden.“ Es hört sich so an, als ob in drei Jahrzehnten jede der kritischen Schweißstellen genau einmal überprüft worden wäre und zwei von ihnen gar nicht. Außerdem: Nach dem Bekanntwerden der französischen Rissphänomene haben – wiederkehrend oder nicht – gar keine Prüfungen mehr stattgefunden.
Für genauere Auskünfte verwies die GRS an die Aufsichtsbehörden der Länder. Folglich mussten die Umweltministerien von Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen auch noch angeschrieben werden. Die Abteilung Kommunikation des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt, Energie und Klimaschutz gab zur Auskunft (ii), im AKW Emsland hätten die letzten Prüfungen im Jahr 2019 stattgefunden. „Hierbei wurden 2 Schweißnähte aus 2 Loops mit dafür qualifizierten Ultraschallverfahren geprüft.“ Die Pressestelle des Ministeriums für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft von Baden-Württemberg teilte mit (iii), im AKW Neckarwestheim-2 seien im Jahr 2021 zwei der fraglichen Schweißnähte geprüft worden, davor nochmal zwei im Jahr 2017. Die Abteilung Bürgerkommunikation des Bayerischen Staatsministeriums für Umwelt und Verbraucherschutz antwortete (iv), im AKW Isar-2 seien zuletzt zwei Schweißnähte geprüft worden. Dies sei während der Jahresrevision 2020 geschehen.
Mit anderen Worten: das kerntechnische Regelwerk sieht für die betreffenden Rohrstücke vor, dass alle fünf Jahre zwei von sechzehn Schweißstellen mit Ultraschall geprüft werden. Wenn diese beiden Nähte nicht zu beanstanden sind, extrapoliert man den Befund auf die übrigen vierzehn. Ob Extrapolation ein geeignetes Verfahren für die Beurteilung des Ist-Zustands einer Hochrisikotechnologie ist, muss von den Aufsichtsbehörden entschieden und verantwortet werden. Hier geht es um die Worte wiederkehrend und engmaschig, die in der Auseinandersetzung um einen Weiterbetrieb dreier Atomanlagen kämpferisch eingesetzt wurden. Sie sollten das Aussetzen der Periodischen Sicherheitsüberprüfung wettmachen und erweckten den Eindruck einer peniblen laufenden Kontrolle.
Das Gegenteil war der Fall. In dem hier erörterten Beispiel, bei dem es immerhin einen aktuellen Anlass zu einem konkreten Korrosionsverdacht gegeben hatte, fand eine Prüfung der kritischen Stellen genau einmal während der gesamten Betriebszeit statt, also weder wiederkehrend noch engmaschig. Jede und Jeder darf sich ein eigenes Urteil bilden, wer in diesem Fall von wem nachweislich getäuscht wurde.
Hat uns die umtriebige Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland an der Nase herumgeführt? Soviel Meinungsfreiheit wollen wir uns nicht herausnehmen. Es könnte freilich sein, dass sie sich in ihrem nuklearen Enthusiasmus selbst getäuscht hat.
Mittlerweile sind an den stillgelegten Atomkraftwerken Rückbauarbeiten im Gange. Säge und Säure werden eingesetzt, um einzelne Bestandteile herauszuschneiden und zu dekontaminieren. Dabei hätten sie wichtige Forschungsobjekte sein können, um Phänome wie Spannungsrisskorrosion oder Neutronenversprödung zu ergründen. Daran haben die Nuklearisten nicht eine Sekunde lang gedacht, auch die vermeintlich exzellenten Professoren der Stuttgarter Erklärung nicht.
Dafür scheint es jetzt zu spät zu sein. Mögliche Asservate sind bereits beschädigt oder zerstört. Im Schreddern macht uns keiner was vor.
[1] Email des stellvertretenden Pressesprechers der GRS vom 9.3.23
[2] Email vom 11.4.23
[3] Email vom 20.4.23
[4] Email vom 3.5.23